Von Kryptorchiden und Yorkshire Terriern oder Klinikstundenzeit

 

Bei Studentenleben haben die meisten ja ganz genaue Bilder im Kopf.

Aufstehen, wenn andere ins Bett gehen, Party machen, auch mal mitten in der Woche in die Berge zum Ski fahren, Sommer im Biergarten, Faschingsdienstag am Viktualienmarkt...

Haben wir alles gemacht, aber nicht so oft wie wir uns das gewünscht hätten. Soviel Zeit für ein derartiges Studentenleben hatte ein angehender Veterinär nämlich nicht.

Zum einen, weil er ja ständig Telefonbücher auswendig lernte und zum anderen, weil es die Klinikstunden gab.

Letztere hatten zwei Eigenschaften, die einem richtigen Studentenleben total entgegen standen. Sie begannen grundsätzlich um acht in der Früh, da half auch ein c.t. dahinter nichts, und es bestand so eine Art Anwesenheitspflicht.

Die Klinikstunden waren wie eine Folge von „Was bin ich?“ nur dass sie hier

„Was hab ich?“ hieß.

Es gab einen tierischen Patienten, Professor „ Robert Lembke“, ein Rateteam bestehend aus ein paar handverlesenen Studenten und natürlich die Zuschauer. Ob man Rateteam oder Zuschauer war, erfuhr man gleich um viertel nach acht.

Da wurden die Namen derer vorgelesen, die in der aktuellen Ausgabe im Rateteam waren.

Für diejenigen, die sich mit der Beschränkung ihres studentischen Lebens nicht so leicht abfinden konnten, begann jetzt der schwierigste Teil.

Wurden sie aufgerufen, mussten sie sehr darauf achten, dass ihnen nicht ein „Scheiße“ rausrutschte.

Wurden sie nicht aufgerufen, mussten sie- wollten sie ins Cafe- in extrem verrenkter Körperhaltung, ohne die Aufmerksamkeit des Professor Lembke auf sich zu ziehen, aus dem Hörsaal schleichen. 

Klinikstunden gab es in Gynäkologie, Chirurgie und in Innerer Medizin.

Eine Klinikstunde in Chirurgie ist mir besonders im Gedächtnis geblieben:

 

Professor "Lembke" war bereits im Studio.

Jetzt musste er sich nur noch sein Rateteam zusammenstellen.

Dazu las er die Namen der Auserwählten in alphabetischer Reihenfolge vor.

Beim Buchstaben K angekommen fiel mein Name, was mir aber weiter nicht auffiel. Ich war gerade frisch verheiratet und so wie ich jede Lastschrift, jeden Brief, einfach alles nach wie vor mit meinem Mädchennamen unterschrieb, reagierte ich auch noch nicht, wenn mich jemand mit Frau Kaiser ansprach.

Da war es ein großes Glück, dass meine Trauzeugin direkt neben mir saß.

Sie gab mir einen solchen Renner in die Seite, dass ich aufsprang. Als sie mir dann auch noch meinen Kittel und ein Stethoskop in die Hand drückte war auch mir klar, das mit dem leise hinausschleichen und einen Kaffee trinken hatte sich für heute erledigt.

Auf dem Weg nach unten zog ich mir mein Veterinärkostüm an und stellte mich dann zu den anderen, denen ebenfalls gerade das zweite Frühstück durch die Lappen gegangen war.

Da öffnete sich die Schiebetür und unser Kandidat, ein leicht nervös dreinblickendes Pferd, wurde hereingeführt.

Auf die Frage „Welches Schweinderl hätten´s denn gern?“ wurde bei „Was hab ich?“ verzichtet.

Wie bei „Was bin ich?“, wo der Kandidat nichts sagen durfte, gab bei „Was hab ich?“, wo der Kandidat nichts sagen konnte, Professor "Lembke" stellvertretend die Antwort.

Die erste Frage und manchmal auch die einzige, die einem da unten einfiel, war die nach dem Geschlecht des Kandidaten.

Also, Rateteam: „Ist der Kandidat männlich oder weiblich?“

Heute warteten wir allerdings vergeblich auf eine Antwort von Professor "Lembke". Stattdessen, den Blick zu einer kleinen zierlichen Studentin gewandt, sagte er:

„Vielleicht möchten sie das ja mal herausfinden, sie bräuchten sich dafür auch gar nicht bücken!“

Für diese Bemerkung zahlte Professor "Lembke" 5 Euro in die Chauvie-Kasse, die Studentin machte sich auf den Weg zum Kandidaten und ich war meinen Eltern extrem dankbar, dass sie mich in 1,70 Meter bestellt hatten.

Am hinteren Abschnitt des Pferdes angekommen machte sich unsere Kollegin sogleich daran, Beweise für oder gegen die Männlichkeit unseres Patienten zu sammeln.

Sie betrachtete sich die dafür in Frage kommenden Stellen eingehend von beiden Seiten, als Professor "Lembke" sie aufforderte, während er ihr das Mikrofon in die Hand drückte, uns an dieser Adspektion doch bitte teilhaben zu lassen.

Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, in solchen Momenten wünschte man sich, man hätte einfach ein „Scottie beamen!“ ins Mikrofon brüllen können, denn in dem Augenblick wo man das Mikrofon bekam, wurde als Gegenleistung die Abgabe des Gehirns und ein „ sich-zum-Deppen- machen“ gefordert.

In diesem Fall tat mir meine Kollegin wirklich leid.

Sie fand etwas, das völlig normal ausgeprägt zu sein schien, dafür konnte sie etwas anderes, was eigentlich folglich auch hätte da sein müssen aber partout nicht finden.

Auf eine detaillierte anatomische Beschreibung dessen, was als Beweis für Männlichkeit durchgehen würde, verzichte ich an dieser Stelle, denn bist du selbst ein Mann, dann bist du im Bilde und bist du (die wahrscheinlichere Variante) eine Frau, dann verfügst du ja erst recht über die nötigen Kenntnisse.

Auf der „Ich mach mich mal zum Deppen –Skala“ war das jedenfalls mindestens eine 9,5.  

Als sich-zum-Deppen-machender fühlte man sich aber erst so richtig gut, wenn sich die Mikrofonlosen, die sich noch im Besitz ihres Gehirns befanden, mit schlauen Kommentaren einmischten.

Jetzt wurde man nämlich in die Rolle des Professor "Lembke" gedrängt und hatte so noch zusätzlich die Aufgabe, auf Fragen der Mikrofonlosen einigermaßen überzeugend zu antworten.

Mit so knappen Antworten wie "Ja" oder "Nein" kam man da allerdings selten aus, da brauchte es schon eher ein „Moment ich schau nochmal nach“.

Mit dieser Antwort konnte man zunächst nicht allzu viel falsch machen, beim anschließenden nochmaligen Nachschauen eventuell schon.

In unserem Fall lief alles glatt, die Frage nach vorhandenen Kastrationsnarben konnte unsere neue „Professorin Lembke“ mit einem klaren Nein beantworten. Was aber sogleich die nächste und alles entscheidende Frage aufwarf:

wenn die Burschen nicht da waren, wo sie eigentlich sein sollten, sie offensichtlich aber auch von niemandem weggeschnitten wurden, wo waren sie dann?

Es musste also noch eine dritte Möglichkeit geben, wo sie sein konnten und die galt es jetzt heraus zu finden.

In solchen Momenten und da konnte man sich hundert prozentig darauf verlassen, kam der entscheidende Hinweis immer aus der Zuschauerecke.

Auch diesmal war es ein Zuschauer aus den vorderen Reihen, in den hinteren wurde zu diesem Zeitpunkt meistens schon geschlafen, der entscheidend zur Klärung dieser Frage beitrug.

Jedenfalls seine Vermutung, dass es sich bei dem unten stehenden Fall um einen kryptorchiden Hengst handeln müsse, wurde von Professor "Lembke“ sofort dankbar bestätigt.

Für alle, die ihr mitten im Studium steckt und noch nicht oder nicht mehr wisst, was man unter Kryptorchismus so zu verstehen hat, erkläre ich das ganz kurz.

Mit dem Wissen darüber, habt ihr dann auch beim nächsten Speed Dating eine gute Möglichkeit einen ungeeigneten Kandidaten super schnell loszuwerden.

Ihr müsst ihn nur fragen:

„Weißt du eigentlich was man unter Kryptorchismus versteht?“

„Nein?, kein Problem, dann erkläre ich dir das mal eben“.

Jetzt müsst ihr nur noch folgenden Satz hinterherschicken:

„Von Kryptorchismus spricht man dann, wenn der Mann keine Eier in der Hose hat.., wetten, der ist weg, noch bevor ihr sagen könnt… weil, sie den Weg nach draußen leider nicht gefunden haben“.   

Zurück zu unserem Kandidaten:

die Hoden, die ja normalerweise auch beim Pferd in den Hodensäcken und damit außerhalb der Bauchhöhle liegen, sind bei einem kryptorchiden Hengst nicht dorthin abgestiegen, sondern entweder nach wie vor in der Bauchhöhle, dann spricht man von abdominalem Kryptorchismus, oder sie haben es zumindest bis zum Leistenkanal geschafft, dann handelt es sich um inguinalen Kryptorchismus. Wieso, weshalb warum steht in einem der Telefonbücher, entscheidend ist, da können sie nicht bleiben, denn die zu hohen Temperaturen im Körperinneren steigern das Risiko für eine tumuröse Entartung und die Zuchttauglichkeit ist so auch nicht mehr gegeben.

Deshalb ist hier eine Kastration zwingend erforderlich und genau für diesen Eingriff war der arme Bursche in der Klinik.   

 

Jetzt noch zu den Yorkshire-Terriern.

Die meisten kennen diese Hunderasse, aber die wenigsten wissen, dass diese Hunde ursprünglich in England für die Ratten- und Mäusejagd gezüchtet wurden. Das nicht-Wissen darüber kann man aber auch niemandem übel nehmen, denn in dieser Funktion sind die kleinen heute nur noch selten oder gar nicht mehr zu sehen.

Von dieser, ihrer ursprünglichen Tätigkeit können die kleinen Yorkis nur noch träumen, wenn sie in ihren Gucci-Taschen durch die Gegend getragen werden. Seit einem Mikrofonauftritt in einer Chirurgie-Klinikstunde, bei der der Kandidat ein Yorkshire-Terrier war, habe ich ein etwas gestörtes Verhältnis zu dieser Hunderasse und zu Gucci-Taschen.

Was war passiert?

Da war also dieser kleine Terrier und lief munter im Hörsaal herum.

Ich hatte zu kommentieren was mir am Gangbild des kleinen Patienten auffiel.

Nun zunächst nichts, dann aber völlig unvermittelt machte er ein paar Schritte, ohne das rechte Hinterbein zu benutzen, was diesen leicht hüpfenden Gang zur Folge hatte. Dann folgten wieder ein Paar ganz normale Schritte, dann hüpfte er wieder.

Das zu kommentieren, war auch ohne Gehirn (ich hatte das Mikrofon in der Hand) noch halbwegs machbar, jetzt kam aber der kniffligere Teil, eine Erklärung für die Hopserei zu finden.

Ich hatte zwei Theorien:

die eine war, dass der Hund vor Freude hüpfte, weil er endlich mal die Gucci-Tasche los war.

Die andere Theorie war, der arme Kerl hatte mit seiner Gucci-Taschen-Sitzerei das Laufen einfach verlernt.

Blöd nur, wenn man zwei Theorien hatte, sich aber keine von beiden eignete, laut geäußert zu werden.

Schließlich sagte ich folgendes:

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Hund vor Freude so hüpft, er trauert doch sicher um den vorübergehenden Verlust  seiner Gucci-Tasche und… zu mehr kam ich nicht, denn das Gelächter das sich jetzt im Hörsaal ausbreitete war so schnell nicht wieder unter Kontrolle zu bekommen.

In diesem Moment ging die untere Hörsaaltür auf und ein anderer Dozent schaute herein.

In Richtung Professor "Lembke“ sagte er:

„Guten Morgen Herr Kollege. Ich glaube ihre Zeit ist für heute um.“

 

Damit war ich der Patella-Luxation des Hundes noch einmal entkommen. In der Chirurgie-Prüfung durfte ich ihr dafür umso intensiver begegnen.

Das nennt man wohl ausgleichende Gerechtigkeit.

 

 

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